Von der Durchreise direkt in die Thronfolge
Kapitel 1: Von oben kommt nur Ärger
Die Sonne stand hoch über Two River, doch im Viertel der Geflügelten war sie schon lange nicht mehr die größte Störquelle des Tages.
„Ich schwöre Sid, wenn du mich noch EINMAL aus dem Fenster anstarrst während ich esse...!“
Chaco saß in seinem Zimmer auf einem wackeligen Hocker vor einem kleinen, schiefen Tisch, der mehr aus zusammengeflicktem Holz als aus wirklicher Stabilität bestand. Sein Mittagstee schwappte über, als er nervös mit den Flügeln zuckte. Eine zitternde Mischung aus Furcht, Paranoia und unverkennbarem geflügeltem Genervtsein.
Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses saß natürlich der Übeltäter Sid. Regungslos. Starrend. Die Flügel um sich geschlungen wie ein zu großer, finsterer Umhang. Die Augen weit aufgerissen. Wäre der Anblick nicht so bedrohlich gewesen hätte es fast komisch gewirkt.
Chaco schluckte. Nicht sein Essen, sondern aus Angst. Beide starrten sich nun einige Sekunden lang an.
Sid antwortete nicht. Er grinste. Zähne blitzten. Viel zu viele davon. Dann rutschte er langsam rückwärts hinter den Dachfirst, als wäre er auf Schienen, und war verschwunden. Keine Bewegung, kein Geräusch. Nur Sid eben.
Chaco schob zitternd den Teller zur Seite.
„Das ist nicht gesund“ murmelte er. „Für ihn vielleicht normal aber nicht für normale Geflügelte mit Gehirn. Und definitiv nicht zur Mittagszeit.“
Er nahm trotzdem einen Bissen von seinem Fladenbrot, biss aber statt in Teig in etwas Kaltes, Glitschiges. Ein Fischauge starrte ihn an. Noch halb lebendig. Vielleicht sogar beleidigt.
„SID!!!“
Der Schrei hallte über die Dächer. Chaco stürmte wütend und angeekelt durchs Haus.
Ein lautes FLAPP FLAPP FLAPP folgte, und eine verschwommene Gestalt mit schwarzen Flügeln sauste lachend über die Dächer davon.
Chaco riss die Tür auf und stapfte hinaus. Sie fiel hinter ihm krachend ins Schloss. Ein paar schmierige Brotreste klebten noch an seinem weißen Shirt, Krümel fielen bei jedem Schritt von ihm ab, während er fluchend in die Straße trat.
„Ich bin ein Held des Dunan-Bundes du Mückenhirn! Ich hab gegen Highland gekämpft! Ich bin ein Kriegsveteran! Ich gehörte zur Elite!“
Von irgendwo in der Ferne hallte eine tiefe Stimme:
„Zum Kriegsfutter vielleicht. Ha ha ha!“
Chaco hielt inne. Die Flügel zuckten, seine Augen glänzten wässrig, und sein Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an. Dann schüttelte er sich heftig.
„Eines Tages Sid. Eines Tages... werde ich dich mit einer Gurke bewerfen. Eiskalt. Von oben.“
Chacos Großmutter, die gerade einen Korb mit Pilzen schälte und durch den Lärm aus dem Fenster blickte, sah lächelnd auf ihn herab.
„Du regst dich irgendwann noch so auf, dass du uns davonfliegst“ sagte sie mit einem leisen Kichern.
Chaco rollte mit den Augen und rief zurück:
„Wenn ich davonfliege dann aber auf eine weit entfernte Insel Oma. Sid kann sich dann ein neues Opfer suchen.“
„Der würde dir folgen. Mit einem Einbaum aus Fischgräten nur um dich zu erschrecken.“
„Das... klingt gar nicht so unrealistisch.“
Er seufzte, wischte sich die Krümel vom Shirt und marschierte los. Aber nicht, um Sid zu jagen. Nicht heute. Heute brauchte er Ablenkung.
Die Straßen von Two River summten vom geschäftigen Treiben ihrer drei Volksgruppen: Menschen, Geflügelte und Kobolde. Doch wo immer Chaco vorbeilief, schauten ihm einige mitfühlend nach. Sid hatte wieder zugeschlagen, das wusste jeder. Der Schatten über den Dächern, der Schrecken der Mittagsruhe. Und Chaco war sein Lieblingsspielzeug.
Am Brückentor zum Menschenviertel zögerten zwei Wachen, ließen ihn dann aber passieren. Der kräftigere von ihnen flüsterte:
„Na, da geht wieder einer seine Ehre suchen.“
Chaco hörte es. Er blieb stehen. Drehte sich langsam um. Die Flügel zuckten.
„Wie war das?“ fragte er laut.
Der Wachmann zuckte zusammen.
„Nichts. War nicht wichtig.“
„Ach so? Dann sag’s doch noch mal. Deutlicher. Ich bin vielleicht klein, aber ich hör ziemlich gut.“
Der zweite Wachmann versuchte zu schlichten.
„Lass gut sein, Chaco. Er meint’s nicht so.“
„Oh, ich weiß genau, was er meint.“
Chaco verschränkte die Arme und ging drei Schritte auf den runden Wachmann zu.
„Ich hab gegen Highland gekämpft, ja? Ich hab in einer Armee voller Monster, Irrer und Zauberer überlebt. Ich hab sogar mit Sid in einem Raum geschlafen. Willst du das mal ausprobieren? Ich kann dich gern vermitteln.“
„Ich... also... das war nur ein Scherz“, stotterte die Wache nun verlegen.
„Dann war’s ein schlechter. Und ich kenn mich mit schlechten Witzen aus. Ich bin aufgewachsen mit Kobold-Comedy.“
„Du bist heute aber besonders empfindlich.“
„Und du bist heute besonders... fett.“
Der zweite Wachmann lachte kurz auf, biss sich dann sofort auf die Lippe.
„Wenn du willst, können wir das hier mit einem Wettfliegen klären“, sagte Chaco und streckte die Flügel weit aus. „Erster um den Brunnen, durch den Torbogen, über den Marktstand mit den sauren Pflaumen und zurück. Verlierer macht eine Woche die Nachtschicht. Deal?“
Der Wachmann sah ihn an, als hätte er plötzlich Zahnschmerzen bekommen.
„Ich darf gar nicht fliegen. Gewerkschaft“, murmelte er kleinlaut.
„Aha. Sag das deiner Ehre.“
Bevor es weiter eskalieren konnte, drehte sich Chaco abrupt um und marschierte weiter über die Brücke, ohne sich noch einmal umzusehen. Aber er grinste. Breit. Ein kleiner Sieg für heute. Nicht der große Ruhm vergangener Tage, aber immerhin ein bisschen Selbstachtung auf zwei Beinen.
Im Menschenviertel war es wie immer: enger, lauter, geordneter. Die Straßen voll von Menschen, die so taten, als gäbe es keine Kriege, keine Politik, kein Geflügelter mit Fischproblemen. Chaco atmete tief durch und ließ sich treiben. Vielleicht konnte er irgendwo ein paar Pflaumen stibitzen. Oder ein Kuchenstück. Oder... na ja, zur Not auch nur ein bisschen Aufmerksamkeit.
Chaco schlenderte durch die Gassen wie jemand, der nichts zu tun hatte, aber trotzdem wusste, wo er hinwollte. Nicht dass das stimmte. Er hatte weder ein Ziel noch einen Plan, aber das musste ja niemand wissen. Selbstbewusst wirkte am besten, wenn man sich einfach bewegte, als hätte man es eilig. Also tat er genau das.
Links zankten sich zwei Händler um den Platz für ihre Stände. Es ging wie immer um den Schatten ab Mittag und darum, wer zuerst da war. Ein ewiger Streit, der nie entschieden wurde, weil beide seit Jahren gleichzeitig kamen und sich absichtlich nicht einig waren. Chaco grinste. Manche Menschen waren verrückt, aber wenigstens waren sie eisern.
Ein kleiner Junge lief ihm entgegen, ein Süßgepäck in Händen und Krümel im Gesicht. Chaco wich ihm aus, tat aber so, als hätte er ihn fast angerempelt, und hob theatralisch die Hände.
„He, pass doch auf. Ich hätte fast deine Quarktasche erwischt.“
Der Junge blieb stehen, sah ihn mit großen Augen an und rannte dann los. Das Gebäck hielt er jetzt noch fester umklammert. Chaco zuckte mit den Schultern.
„Früher wäre ich nicht ausgewichen. Sah ziemlich lecker aus.“
Er bog in eine Seitengasse ein, die nach Kohle und feuchtem Stein roch. Die Leute hier waren ruhiger. Ihre Häuser standen ein wenig schief, die Türen waren bunt gestrichen. Ein alter Mann saß auf einem Hocker vor seinem Fenster und schnitzte an einem Stück Holz. Er sah nicht auf, als Chaco vorbeiging, murmelte aber etwas.
„Schon wieder du. Überhaupt nicht verdächtig, Kleiner.“
Chaco tat so, als hätte er nichts gehört. Ein anderes Mal hätte er vielleicht eine spitze Bemerkung zurückgegeben. Irgendetwas in Richtung „Alt und schrumpelig wie deine Schnitzkunst“. Aber heute war er nicht mehr in Stimmung. Der Wachmann hatte gereicht, um seinen Frust loszuwerden.
Ein paar Mädchen spielten mit Kreide auf dem Pflaster. Sie malten Sterne, Herzen und ein sehr krummes Einhorn. Eine von ihnen sah Chaco, lächelte und fragte:
„Kannst du fliegen?“
Er blinzelte.
„Was?“
„Na, du bist doch ein Geflügelter. Flieg mal. Nur ein bisschen.“
Die anderen kicherten. Es war kein Spott, eher echte Neugier.
Chaco strich sich über die Flügel, als müsste er sie erst prüfen. Dann schüttelte er den Kopf.
„Heute nicht. Zu viele Kinder gegessen. Ich würde euch sonst auf den Kopf kotzen.“
Die Mädchen kreischten erst vor Schreck, dann lachten sie. Chaco lachte mit, leise, aber ehrlich.
Ein paar Schritte weiter entdeckte er einen Obststand. Pflaumen. Dunkelviolett, leicht staubig, perfekt gereift. Die Verkäuferin war eine Frau mit strengen Brauen. Sie behandelte ihre Waren, als wären sie königliche Erbstücke. Keine Chance auf Beute.
Aber hinter ihr, an der Ecke des Stands, war ein einzelner Apfel heruntergerollt. Er lag halb unter einem Fass.
Chaco sah sich um. Niemand achtete auf ihn.
Ein schneller Griff, eine fließende Bewegung, und der Apfel war sein.
Er biss hinein. Süß. Knackig. Fast ein bisschen zu gut für so eine Gasse.
„Schmeckt's?“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Er fuhr herum. Es war ein menschlicher Soldat des Dunan-Bundes. Nicht einer der Schlechten, aber auch keiner der Netten. Irgendetwas dazwischen.
Chaco verschränkte die Arme, kaute langsam.
„Verwahrlost. War praktisch streunend.“
Der Wachmann hob die Brauen, sagte aber nichts. Dann ging er weiter.
Chaco wartete, bis er außer Sicht war, bevor er wieder loslief.
Er kam an einem Brunnen vorbei, an dem eine ältere Frau Wäsche ausspülte. Daneben döste eine Katze, grau und zerrupft. Sie öffnete ein Auge, als Chaco vorbeiging, und schlief dann einfach weiter. Irgendwie beneidete er sie. Keine Sorgen, kein Sid, nur ein sonniger Platz und ein bisschen Gleichgültigkeit gegenüber der Welt.
Am zentralen Platz war mehr los. Kinder rannten. Hunde bellten. Ein Musikant spielte eine große Flöte und versuchte, Münzen in seinem Hut zu sammeln. Es funktionierte nur bedingt. Chaco warf ihm den Apfelrest hinein.
„Furchtbar. Wer schmeißt denn sowas in den Hut?“, murmelte er und schüttelte unschuldig den Kopf, während er weiterging.
Der Mann sah zuerst perplex, dann zunehmend wütend auf seinen Hut und schimpfte hinter Chaco her, während dieser schon in der Menge verschwand.
Auf einer Bank vor dem Runenladen saß ein junges Paar. Sie hielten sich eng umschlungen und lehnten die Stirn aneinander. Chaco warf einen kurzen Blick hin und wandte sich ab. Nicht eifersüchtig. Eher angeekelt. Als gäbe es nicht genug Gassen oder den ganzen Wald draußen vor der Stadt, um so ein seltsames Liebes-Dingsda aufzuführen.
Er setzte sich auf die nächste freie Bank. Die Sonne stand hoch, und wenn er sich konzentrierte, konnte er die Vögel singen hören. Er schloss die Augen, nur für einen Moment.
Bittersüße Gedanken befielen ihn. Erinnerungen an die Burg. An nervige Tagesbesprechungen und wilde Streiche. An Sid, der auf Tonys Acker hockte wie eine Spinne und ihm todernst erklärte, dass Maulwürfe manchmal lügen. An Sheena, der zu cool für alles war, bis er beim Anblick eines besonders großen Käfers an seiner Hose kreischte wie ein Schulmädchen. An alle, die gekämpft haben und jetzt weg waren. Verstreut. Vergessen.
Er atmete langsam aus. Vielleicht war es gut, dass sich Dinge ändern. Wahrscheinlich wäre er ein noch schlimmerer Rotzbengel geblieben, hätte er Riou damals nicht gefragt, ob er sich der Armee anschließen dürfe. Fitchers bitterer Gesichtsausdruck war damals köstlich gewesen.
Plötzlich riss ihn ein lauter Knall aus seinen Gedanken ins hier und jetzt. Irgendwo war ein Fass umgefallen. Ein Kind heulte. Eine Mutter schimpfte. Das Leben ging weiter und das dank des Dunan-Bundes.
Chaco stand auf, streckte sich und klopfte sich die Hose ab.
Dann sah er sie.
Nicht irgendein junges Pärchen, wie man sie ständig im Menschenviertel sah. Nein, sie. Hix und Tengaar. Kaum verändert. Hix trug noch immer diesen übermotivierten Ritterblick, stolz und leicht überfordert. Tengaar wirkte wie eh und je, als könnte sie jederzeit mit einem gezielten Blick zehn Soldaten auf die Knie zwingen.
Chaco blieb abrupt stehen, zog die Flügel leicht an und grinste.
„Na so was...“
Sie hatten ihn noch nicht bemerkt. Hix versuchte gerade, einer Marktfrau ein Glas Einlegefrüchte abzuquatschen, indem er von einem Kampf gegen ein „Ungeheuer mit zwei Mäulern“ erzählte. Tengaar stand daneben, die Arme verschränkt, der Blick zum Himmel gerichtet, ganz offensichtlich in Gedanken bei friedlicheren Themen.
Chaco trat ein paar Schritte näher. Ein Blick auf Hix' Beintasche bestätigte: Die lag offen. Voll mit Münzen. Nicht, dass er sie wirklich brauchte, aber das war nicht der Punkt.
Ein schelmisches Kichern kam ihm über die Lippen.
Das hier war eine Gelegenheit. Und ein Willkommensgruß. Auf seine Art.
Ein kurzer Schritt. Ein Hauch von Bewegung. Die Flügel zuckten im Vorbeigehen.
Zack. Beute.
Er ging weiter, betont gelassen. Nur so schnell, dass man ihn bemerken musste. Und wie erwartet:
„Hey! Meine Tasche!“
„Er hat sie geklaut! Der Bengel mit Flügeln!“
Chaco lief los. Nicht zu schnell, gerade so, dass sie ihn verfolgen mussten.
„Na los, kommt schon... ein bisschen Bewegung tut euch gut.“
Er bog um Ecken, schob sich durch enge Gassen, warf dabei immer wieder einen Blick über die Schulter. Hix und Tengaar verfolgten ihn tatsächlich. Hix schnaufte, Tengaar fluchte. Chaco kicherte.
„Ich hab euch echt vermisst.“
Er sprang über einen Karren, rutschte unter einem Wäscheseil durch, bog scharf ab und landete genau da, wo er hinwollte: in einem kleinen Hinterhof, eingekesselt zwischen Mauern, Holzkisten und zwei halb verwirrten Hühnern. Eine perfekte kleine Sackgasse.
Er drehte sich um, lehnte sich lässig gegen die Wand, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und wartete. Es dauerte nicht lange.
Nur Sekunden später stürmten Hix und Tengaar durch das enge Tor. Hix keuchte wie nach einem Marathon in voller Rüstung, das Haar klebte ihm leicht an der Stirn. Tengaar wirkte nicht erschöpft, sondern eher genervt. Ihre Arme schwangen knapp über dem Gürtel, bereit zum Einsatz, der Blick suchte nicht nach einem Feind, sondern nach dem Grund für diesen ganzen Unsinn.
„Da ist er! Stell dich, Dieb!“ Hix blieb mit gespreizten Beinen stehen und machte zwei große Schritte auf ihn zu, die Hände halb erhoben, als würde er gleich ein Heldenduell beginnen.
Chaco hob eine Hand, ganz ruhig, als wolle er ein Wolf zähmen.
„Beruhig dich, großer Held. Ich bin nicht bewaffnet. Höchstens mit Charme“, sagte er mit einem Grinsen, das fast schon beleidigend entspannt wirkte.
Hix runzelte die Stirn. Der Schweiß glänzte in der Sonne.
„Was redest du da? Gib einfach die Tasche zurück!“
Chaco rollte sich elegant von der Wand ab, stellte sich locker hin und hob betont langsam die zweite Hand. In der rechten hielt er die kleine, braune Tasche. Seine Stimme wurde plötzlich ernst.
„Gleich. Erst dürft ihr raten, wer euch da gerade durch halb Two River gejagt hat.“
Hix blinzelte. Seine Hände sanken ein Stück. „Was?“
Tengaar trat nun einen Schritt nach vorne, schob Hix mit dem Ellenbogen etwas dolle beiseite und starrte Chaco prüfend an. Ihre Ausdruck wurde musternd, dann hob sie eine Braue.
„Diese Stimme... warte mal... dieser Blick. Die Flügel. Der freche Tonfall...“
Sie presste kurz die Lippen zusammen, dann seufzte sie und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Chaco.“
„Na endlich.“ Chaco breitete die Arme aus, als wäre er der lang erwartete Hauptdarsteller auf einer Bühne. „Schöne Diebesgrüße des Tages.“
Hix starrte Tengaar an, als bräuchte er noch ein paar Sekunden, bis sein Gehirn die Verbindung herstellte.
Tengaar legte die Hände in die Hüften, die ernste Miene in ihrem Gesicht wich etwas sanften.
Sie starrte ihn jetzt fröhlich und frustriert zugleich an. „Du hast mir damals meine Haarbürste geklaut, sie als Schleuder missbraucht und dann auch noch irgendwo in den Burggraben geschossen. Hix durfte den halben Nachmittag draußen danach suchen.“
„Die Haarbürste war improvisiert“, sagte Chaco unschuldig. „Aber die Reichweite war beachtlich.“
Hix starrte zurück zu Chaco. Dann weiteten sich seine Augen.
„Moment... du bist der kleine Flügelflitzer, der mein Stirnband ans Dach der Burg gebunden hat? Die Ninjas dachten, ich wäre ein Attentäter, der sich ins Gemach des Anführers schleichen will!“, fuhr er empört heraus.
„Man konnte deinen Angstschweiß sogar durchs Fernglas sehen“, kicherte Chaco. „Und der Blick von diesem Ninja, unbezahlbar. Er trug selbst ein Stirnband und klopfte dir mitleidig auf die Schulter, als wärst du sein verlorener Bruder. Nur schade, dass du’s dir dann am Ende bringen lassen hast.“
Chaco prustete los.
Hix kniff die Augen zusammen. Dann lachte auch er, wenn auch etwas nervös.
„Ich? Mir etwas bringen lassen? Niemals. Ich besteige Dächer persönlich, auch bei Windstärke acht.“
Er sah Chaco an, zog eine Braue hoch und fasste sich etwas genervt an seine Nase.
„Ach Chaco, wie konnte ich dich nur vergessen... wahrscheinlich verdrängt.“
Sein Blick wanderte dabei kurz zu der Geldbörse in Chacos Hand, wo er deutlich zu lange verweilte.
Tengaar schüttelte den Kopf, aber ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
„Du bist wirklich unverändert. So ein Bursche wie du hätte nie in solche brutalen Schlachten ziehen sollen, und trotzdem warst du Riou immer treu. In der Burg hattest du immer was zu lachen, selbst wenn draußen der Himmel gebrannt hat.“
Sie wurde einen Moment ernst, sah ihn direkt an.
„Und dass du uns bestehlen und dann auch noch selbst zur Rede stellst, zeigt nur eins: Du hast uns beide ziemlich vermisst.“
Hix trat vor und schlug Chaco freundschaftlich auf die Schulter.
„Du bist ein kleiner Gauner. Aber ein guter.“
Chaco senkte den Blick. Seine Wangen färbten sich rot, erst nur ein Hauch, dann so intensiv, dass man meinen konnte, sein Kopf würde gleich explodieren.
„Ich... also...“ Er räusperte sich, drehte den Geldbeutel in der Hand. „Ich wollte euch nicht wirklich beklauen. Es war nur... na ja...“
Er reichte Hix die Börse mit einem schnellen, verlegenen Ruck. Das Wiedersehen wurde Chaco plötzlich fast unangenehm.
„Es war ein Gruß, okay? Meine Art, Hallo zu sagen. Nicht mehr.“
Hix nahm die Börse entgegen und sah ihn schief an.
„Deine Art, Hallo zu sagen, führt bei anderen zu Platzwunden.“
„Und Blasen an den Füßen“, warf Tengaar trocken ein.
„Ich meinte es wirklich nur nett“, murmelte Chaco, dann grinste er frech. „Ich bin eben... eigen. So wie deine Kleidung, Hix.“
„Die ist neu“, entgegnete Hix reflexartig.
„Und trotzdem komisch.“
Alle drei mussten lachen. Ehrlich, erleichtert, wie alte Freunde, die vergessen hatten, wie einfach das eigentlich sein kann.
In dem Moment raschelte es über ihnen. Ein Flattern, das irgendwie falsch klang, zu unregelmäßig, zu gluckernd.
Tengaar trat automatisch einen Schritt zurück. Hix hob instinktiv den Arm, als hätte er einen Schild, den es gar nicht gab.
Dann schwebte Sid lautlos von oben herab, rücklings, die Flügel halb ausgebreitet wie eine groteske Fledermaus. Seine Augen glänzten, das Grinsen war breiter als gesund.
„Oh! Ein Wiedersehen unter Freunden! Ich liebe Wiedersehen!“, rief er und drehte dabei eine mühelose Schraube in der Luft.
Chaco öffnete den Mund. Sprach starr vor Angst aber nichts.
Tengaar blinzelte. Sagte auch nichts. Als hätte sie für ein Moment an etwas düsteres aus alten Tagen gedacht.
Hix schnaufte leise und flüsterte: „Sid.“
Er hatte ihn nie vergessen. Diese verdrehte Person, die jeden Abend im Dojo auf den Händen lief, ohne jede Erklärung, als wäre das normal. Wie ein Albtraum mit festen Trainingszeiten.
Aber bevor auch nur eine Minute verging, war Sid schon wieder verschwunden. Er glitt rückwärts davon, wie ein unheimliches Gespenst auf Reisen. Keine Spur, kein Geräusch, einfach weg.
Die drei starrten einen Moment lang in den Himmel, als könnten sie dort eine Erklärung finden.
Dann durchbrach Chaco die Stille.
„Ich brauch was zu essen. Dringend. Irgendwas Warmes. Und fischfrei.“
„Bin dabei“, sagte Hix sofort. Sids ausgehobene Fischgräber noch tief im Gedächtnis.
Tengaar schüttelte sich.
„Seine Flügel... und wie er sie bewegt, fast wie ein Vampir. Oh, ganz schlechte Erinnerungen. Los jetzt, Hix.“
Mit geübter Selbstverständlichkeit packte sie ihn am Kragen und zog ihn aus der Gasse.
Chaco warf noch einen vorsichtigen Blick nach oben, dann folgte er den beiden, erleichtert und seltsam froh.
Er hatte fast vergessen, wie viele Menschen er damals in der Burg gekannt hatte.
Und wie viel Spaß sie miteinander hatten.
Ob freiwillig oder einseitig.